Nachdem mich Philippe Arnold gebeten hatte, meine Gedanken über den Bergsturz Bondo als nichtbeteiligter Geologe der Geologen-Community kundzutun, habe ich mich gefragt: Wieso ich? Eigentlich habe ich mich bereits vergangenen Freitag gesträubt, etwas darüber zu formulieren und den ersten Anruf des Blick abgelehnt. Am selben Abend habe ich dann den mittlerweile dritten Anruf etwas widerwillig abgenommen, am anderen Ende offenbarte sich dann ein durchaus vertrauenswürdiger Journalist. Ich habe ihm erklärt, dass ich zwar viel Erfahrungen mit der Untersuchung von Bergstürzen der Zentralschweiz habe, aber nicht gerne Auskünfte über einen Bergsturz im Bündnerland gebe, wo ich die Gegend zwar kenne, über das Bergsturzereignis aber lediglich aus der Presse informiert sei. Schliesslich konnte er mich überzeugen, dass ich als mit Naturgefahren vertrauter Geologe doch ein kurzes generelles Statement abgebe. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, weil er meinte, die Geologen seien entweder nie erreichbar und sagen nur nichts, da sie “alle unter einer Decke” stecken würden.
Nun, vielleicht ist es leichter, aus der Ferne die für die Boulevardpresse dringendsten Fragen in vorsichtig genereller Weise zu beantworten: Gibt es eine Chance, die Toten wieder zu finden? Wie geht es weiter? Wie lange dauert das wohl, bis wieder Normalität herrscht? Glücklicherweise habe ich da nichts Falsches gesagt, denn jeweils kurze Zeit später lautete die offizielle Stellungnahme gleichermassen. Ich bin bestimmt kein Freund der Boulevardisierung, aber wir Geologen sollten deren Medien nicht einfach ignorieren: Teile der Bevölkerung informieren sich nun mal anhand stark vereinfachender Medien und nicht via differenzierte, sachliche Analysen und Meinungen der Fachpresse und von Fachorganen. Trotzdem haben die für uns vielleicht banalen Fragen der Boulevardpresse durchaus ihre Berechtigung, auch wenn sich danach die „Hater“ in den Kommentarspalten in wilden Spekulationen und Verschwörungstheorien üben. Da hat es die renommierte Presse viel einfacher: Wie der Journalist bemerkte, finden sich leicht ein mediengewandter Geologe oder ein ETH-Forscher, der als ultimativer Warner angepriesen wird, als wenn die verantwortlichen Naturgefahrenfachleute vor Ort allesamt Schlaftüten wären.
Während die jüngsten Bergstürze Randa (1991) oder Preonzo (2012) glücklicherweise keine Menschenopfer forderten, erfüllte sich mit dem Bergsturz am Pizzo Cengalo das inhärente Todesfallrisiko mit acht Opfern leider auf tragische Weise; man bedenke, dass Heim schon 1934 im noch erheblich geringer besiedelten Alpenraum in historischer Zeit von 5000 Todesopfern durch Bergstürze ausgeht. Ich hoffe, dass mit Bondo die überfällige Wende im Umgang mit Bergstürzen eintreten wird: Bis 2017 bewerteten die Empfehlungen des Bundes Bergstürze unter falscher Begriffsanwendung als „Restrisiko“, und bis heute schliesst auch EconoMe katastrophale Ereignisse weitgehend oder gänzlich aus. Sie sind mehr oder weniger auf Magnituden von Unfällen fokussiert und berücksichtigen Naturgefahren katastrophalen Ausmasses wie Bergstürze nicht wirklich ‑ auch in der neuesten Fassung 2017, wo Bergstürze etwas unausgereift noch schnell den Felsstürzen zugeordnet werden. Damit wird eine proaktive Identifikation der wirklich grossen Risiken mit katastrophalen Ausmassen behindert, insbesondere wenn sie von unkritischen „Naturgefahrenfachleuten“ der Kantone buchstabengetreu ausgelegt werden. Bergstürze – heute als „Massive Rock Slope Failure“ (MRSF) bezeichnet – umfassen mindestens fünf Magnituden von Volumina zwischen 105 bis 1010 m3 und können aus verschiedenen Gründen nicht einfach wie Felsstürze behandelt werden. Zum einen sind da die enormen Prozessflächen, die je nach Typ (z.B. Rock Falls, Planar / Irregular Slides) völlig unterschiedliche, teils überraschend flächige Dimensionen von mehreren km2 erreichen können, besonders, wenn sich daraus Gerölllawinen (Rock Avalanche) entwickeln: Der bekannte Bergsturz von Goldau (1806) als Schweizer Meilenstein im Umgang mit Naturgefahren hatte eine Prozessfläche von 7.56 km2, ‑ daneben erscheint der Bergsturz Bondo als Zwerg.
Als besonders kritisch zu werten sind die Ereignisketten von Bergstürzen, seien es Tsunamis (z.B. Bürgenstock 1601) oder Murgänge aus dem remobilisierten Liegenden (Vitznau 1879), wodurch sich das ursprüngliche Sturzvolumen im Extremfall verdoppeln kann (Vancouver Island 1999). Folgeereignisse sind ein Faktum, aber schwer vorhersehbar, und Bondo 2017 sei uns ein Mahnmal: Hätte ein Geologe die Murgänge so prognostiziert, er wäre wohl für verrückt erklärt worden. Vielmehr scheint hier ein unbeachtetes Phänomen eingetreten zu sein, nämlich der relevante Effekt des in grossem Mengen vorhandenen Wassers (fest und flüssig), das ‑ wie es die eher weissen Wolken auf den Videos vermuten lassen – durch die hohe Reibungsenergie „schlagartig“ freigesetzt wurde: Gehen wir als Hypothese von einem Eisanteil von 3% aus, so können durch die Reibungswärme 100‘000 m3 Wasser in die auf 3 Mio. m3 geschätzte Sturzmasse freigesetzt worden sein, wozu sich – wie andere Fachleute mutmassten ‑ mitgerissenes und ebenfalls geschmolzenes Eis des Vadrec dal Cengal am Fuss des Pizzo Cengalo gesellten. Rezente Forschungen belegen, dass ein erhöhter Wassergehalt die Fahrböschung von Bergstürzen erheblich verlängert, da er sich nicht gemäss konventionellen Reibungsmodellen verhält. Weiter würde uns das so freigesetzte Wasser auch die Entstehung der überraschend gewaltigen, primären Murgänge erklären als simultane Bildung einer Murgangphase infolge Durchmischung des freigesetzten Wassers mit dem Gesteinsmehl der Sturzmasse; dies erscheint wohl plausibler als der gemutmasste Einfluss der Seitenbäche, die nun wohl eher für die derzeitigen und künftigen, kleineren Murgänge verantwortlich sind. Ich gehe davon aus, dass diesem sicher aussergewöhnlichen Bergsturz noch primäre (Knochenarbeit involvierter Fachleute), sekundäre und SCI-trächtige, tertiäre Publikationen gewidmet werden.
Erstaunt bin ich ob der widersprüchlichen Aussagen von Fachleuten über den Permafrost und Klimawandel als vermeintliche Ursache, so dass auch Bundesrätin Doris Leuthard in diese Falle tappen musste und darob von der rechtsbürgerlichen Politik postwendend hart kritisiert wurde: Seit Heim (1932) gilt doch das wichtige Konzept der geologisch vorgegebenen Grunddisposition (Predisposition) und der Jahrhunderte bis ‑tausende dauernden Vorbereitungsphase (Pre-Conditioning durch Preparatory Factors) grosser Bergstürze, die klar vom Auslöser zu unterscheiden sind. Letzterer bestimmt als Trigger den Zeitpunkt: Nebst Wassersättigung und Porenwasserspannungen z.B. durch übermässige Niederschläge sind Erdbeben sehr kurzfristig und entsprechend gefährliche Trigger. Dem Permafrost ist diesem Kontext eine Mehrfachfunktion zuzuschreiben: Bei der Entstehung wirkt er als negativer vorbereitender Faktor, in der persistenten Phase eher stabilisierend und beim Auftauen und mit Einsetzen der destabilisierenden Gefrier-Auftau-Zyklen und daraus resultierenden, episodischen Porenwasserspannungen zunehmend auch als quasi „saisonaler“ Trigger. Ich stelle mir hier die Frage: Wie vermitteln wir als Naturwissenschafter solch komplexe Zusammenhänge, so dass sie nicht falsch ausgelegt werden können?
Dass nun polizeiliche Ermittlungen darüber eingeleitet wurden, ob die Verantwortlichen ungenügend gewarnt hätten, ist nach Todesfällen in unseren Gesetzen so vorgegeben. Dem juristischen Verdikt schreibe ich grosse Bedeutung für alle Verantwortlichen im Bereich der Naturgefahren zu: Was müssen wir alles wissen und tun, wie vorsichtig müssen wir sein, damit das Recht unser Handeln stützt?
Wie gross die gesellschaftlichen Auswirkungen des Ereignisses Bondo schliesslich sein werden, beeinflussen massgeblich die Medien und seit je her die Politik. Hier wäre auch die Chance für unsere Geologen-Community, mit profundem Wissen und Fakten zu einem realistischen Umgang mit solch katastrophalen Ereignissen beizutragen. Als Erdwissenschafter sollten wir uns überlegen, vielleicht ein offizielles Sprachrohr einzurichten, wo wir mit gemeinsamen, gut abgestützten Statements an die Presse unsere wohlüberlegte Meinung kundtun können, frei von geschäftlichen oder persönlichen Partikularinteressen. Wir sollten aber auch kritisch Wissenslücken und Forschungsbedarf offenlegen. Nur so kann die Glaubwürdigkeit unseres Berufsstands bewahrt und gestärkt werden, so dass das kursierende Bonmot vom „Geolügen“ eben Lüge gestraft würde.
Ich meine, wir sollten nun auch Wege skizzieren, wie unsere Gesellschaft im mittlerweile relativ dicht besiedelten Alpenraum künftig mit solch katastrophalen Risiken umgehen kann: Zuerst sollten wir vermitteln, dass Bergstürze ‑ mit Ausnahme Erdbeben-getriggerter – zumindest zeitlich vorhersehbar sind, wenn man ihre Anzeichen ernst nimmt ‑ wie dies bereits Albert Heim (1934) formuliert hatte und wie dies die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit bestätigen.
Weiter denke ich, dass wir das fantastische Bergsturzarchiv der Alpen überall öffnen, alle historischen und prähistorischen Bergstürze inventarisieren, beschreiben, klassieren, ihre Dispositionen, Mechanismen und räumlichen Ausdehnungen interpretieren und daraus die Gefahren und Risiken analysieren. Die Methodik stellt uns die internationale Bergsturz-Community zur Verfügung – wir müssen sie nicht neu erfinden und eine Schweizer Version gebären. Ich habe dies für die nördliche Vierwaldstättersee-Region versucht, mit erstaunlichen, eher bedenklichen Ergebnissen, sowohl was die aus dem Bergsturzinventar abgeleiteten, enormen Prozessräume als auch die Eintretenswahrscheinlichkeiten und die Risiken anbelangt. Wichtig scheint mir, dass die Erforschung zuerst in regionalem Massstab für den Alpenraum gemacht wird und nicht in der Skala der aktuellen Gefahrenkarten. So lassen sich die regionalen, Dispositions-abhängigen Hotspots eruieren und differenziert analysieren. Dabei gilt es zu bedenken, dass jeder identifizierte, potenzielle Bergsturz ein schwierig durchschaubares Individuum sein wird, das einer gesonderten Untersuchung bedarf. Dies hat uns der Bergsturz Bondo nur allzu deutlich vor Augen geführt. Der schwierigste Teil dieser Arbeit wird es sein, die profunde zu verifizierenden Resultate der Gesellschaft zu erklären, vor allem dann, wenn wohl an einigen Orten ein den Bergstürzen inhärenter, grossflächiger Handlungsbedarf im alpinen Siedlungsraum resultieren würde.
Meine Gedankengänge schliesse ich ab: Nehmen Gesellschaft und Politik die Warnzeichen Bondo ernst, kommen wichtige Arbeiten und Fragen auf uns Naturgefahren-Geologen zu, die kritisch und in aller Offenheit diskutiert werden müssen, nicht nur durch die kleine Cloud „auserwählter“ Geologen. Es gib viel zu tun, packen wir es an!
Dr. Beat Keller (Geschäftsführer, Geologe SIA)
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